Mittwoch, 28. Juni. Den Dom von Siena noch in den Augen, fahre ich mit dem Auto die Bergstraße hoch auf den Monte Oliveto (‚Ölberg‘), der Klostergemeinschaft der Olivetaner entgegen, gegründet Anfang des 14. Jahrhunderts vom Adligen Giovanni Tolomei (2009 heiliggesprochen). Abgeschieden liegt das Kloster in der ‚Wüste von Accona‘, südlich von Siena. Ein Ziegelsteinbau inmitten einer windausgesetzten Oase von Zypressen, errichtet zu Beginn des 15. Jahrhunderts.
Die Olivetaner lebten damals und leben heute im Geist und nach den Regeln des Benediktinerordens („ora et labora“ – „bete und arbeite“). Gäste, zumeist Touristen/innen (wie auch ich einer bin), gehen vom Parkplatz aus einen kopfsteingepflasterten Weg hoch zum Klostergebäude und zur Klosterkirche (deren Innenraum Mitte des 18. Jahrhunderts im barocken Stil modernisiert wurde). Nach dem Ende der allgemeinen Besuchszeit können Gäste dann am abendlichen Stundengebet der katholischen Kirche teilnehmen (18.30 Uhr), an der Vesper, von den Olivetanern im gregorianischen Wechselgesang vorgetragen, in lateinischer Sprache. Warum aber beten Menschen heute noch? Zumal derartige ‚Pflichtgebete‘ (wie sie auch das Judentum und der Islam kennen), zudem Texte weit zurückliegender Zeiten, teilweise Jahrtausende alt, scheinbar ohne direkten Bezug zu den Situationen, zu den Problemen, Anliegen und Hoffnungen heutiger Menschen? Ist das nicht alles unheilbar altmodisch und unzeitgemäß, ein (weiteres) Dokument der Rückständigkeit von Religion(en) und Kirche(n)?
Vielfach ist, gerade in der Wahrnehmung Jugendlicher, das Beten verbunden (und wird so auch praktiziert) mit Anliegen, die wir Menschen haben in Situationen der Not, der Bedürftigkeit, im eigenen Leben oder im Leben derer, die uns nahe stehen. Bittgebete, auf dass sich ändern möge das, was nicht sein dürfe: Krankheit. Einsamkeit. Altersschwäche. Misserfolg. Kummer. Elend. Not. Gott möge doch, so der naheliegende Gedanke, all das ändern. Und klar: Wenn man selbst nichts (mehr) ausrichten kann, weil die Umstände es verhindern oder die eigenen (körperlichen) Kräfte nachlassen, scheint es nahezuliegen, bei Gott um Hilfe anzusuchen. Religionen, Kirche und Gebet, Gottesdienste und Kirchengänge, scheinen was für schwache, kranke, chancen- und kraftlose Menschen zu sein. Solange er hingegen Kraft hat und Energie, zumal vielleicht noch Geld und Ansehen, wird der (zumal vernünftige) Mensch des Gottes und des Gebets wohl kaum bedürfen….
Ganz anders, so scheint mir, das Wissen der Mönche vom Monte Oliveto, die da jahrein-jahraus allabendlich für eine halbe Stunde zusammenkommen, um alttestamentliche Psalmen zu singen und zu beten. Sie wissen: Gesundheit, Jugend und Kraft sind weder eine Selbstverständlichkeit noch dürfen die Menschen je davon ausgehen, stets gesund, wohlsituiert und sorgenfrei sein, der Krankheit, der Not, dem Kummer und zuletzt auch dem Tod ein fürs andere Mal ein Schnippchen schlagen zu können, und das möglichst häufig und langfristig. Stattdessen, zunächst und vor allem (und auch vor all dem, was wir uns für unser Leben wünschen, und vor dem wunderbaren Gefühl des Glücks, wenn wir es erleben): Verdient hat sich kein Mensch irgendetwas, auf nichts hat er ein Recht so, dass es zu seinem Leben gehörte wie zu seinem Körper die Arme und Beine. Und damit auch keine Eigenschaft des Lebens, deren Fehlen dann bedeutete ein mangelhaftes, ein defizitäres, ein weniger menschliches Leben, ein weniger lebenswertes, ein weniger lebendiges Leben. Meinem Leben kann nichts fehlen. Und schon gar nicht kann ich mein Leben verwirken, meine Zugehörigkeit zum Leben. Denn es ist ja nichts da, was meinem Leben zugehörte: Es kennt keine Eigenschaften (keine Sorgenfreiheit, keine Gesundheit, keinen Wohlstand, aber auch keinen Verdienst und keinen Lohn). Vielmehr: Mein Leben ist mein Leben. Nichts mehr. Martin Luther sprach hier von der „Freiheit eines Christenmenschen“, andere sangen „Freedom’s just another word for nothin‘ left to lose“ (Janis Joplin). Eben dies ist die zentrale Botschaft des Betens der Religionen. Und dies auch ist das zentrale Bekenntnis christlichen Glaubens.
Leben kann sich nicht selbst verwirken. Und damit auch ist nicht selbstwiderspruchsfrei möglich ein (häufig gleichsam selbstverständlich vorgetragener) Wunsch danach (oder gar ein Recht darauf), dem eigenen Leben oder dem Leben anderer (auf dessen Wunsch hin) ein Ende zu setzen. Nichts, was dem Leben zugehörte und daher nichts, was ihm fehlen könnte. Keine Gesundheit, kein Reichtum, kein Erfolg. Auf derartiges zu bestehen „weil ich erst dann glücklich, erst dann ein Mensch sein kann“, geschieht letztlich im Trotz, in der Aufspreizung, in der Selbstaufbauung, im Schleier des Selbstbetrugs. Und in der unsäglich-diabolischen Logik der vielen Wohlstandsversprechen, denen wir Land-auf-und-ab so häufig begegnen. Und dessen Ausbleiben uns dann nach Schuldigen suchen und diese, parteipolitisch genutzt, auch finden lassen: Ausländer und Migranten, Islam und Religionen überhaupt, …
Zu beten heißt: Sich bewusst sein der wesentlichen Bedürftigkeit des Lebens, der kein Erfolg und kein Reichtum, keine Gesundheit und keine Sicherheit trotzen können. Ihr können wir uns nicht widersetzen, wir können sie nicht aus unserem Leben vertreiben. Beten heißt, philosophisch gesprochen, der Kontingenz des Daseins bewusst und ihr gewachsen zu sein. Beten ist was für ehrliche Menschen, für Menschen, die das Leben bejahen (und ihm eben nicht in den Illusionen und Heilsversprechungen fliehen, es nicht gegen den Schleier der Wohlstandssegnungen austauschen). Und dann heißt Beten: Einander beistehen, füreinander sorgen, miteinander gehen – dort und dorthin, wo kein Erfolg ist und kein Reichtum, keine Gesundheit und keine Sicherheit, kein Wohlstand und keine Jugendlichkeit. Miteinander zu sein und die Not zu ändern dort, wo sie uns begegnet, in all der Bedürftigkeit dieser Welt. Und im Wissen darum, dass es gut ist und genug, was wir sind: Menschen, Leben (ohne Eigenschaften).
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